Ngũgĩ wa Thiong'o – Verfechter der afrikanischen Sprachen und Kulturen PDF Drucken E-Mail

Ngũgĩ wa Thiong'o –

Verfechter der afrikanischen Sprachen und Kulturen

Alljährlich ist er als Gewinner des Literaturnobelpreises im Gespräch. Journalisten campierten in seinem Garten, um ihn als erste interviewen zu können. Verliehen wurde ihm der Preis bis heute nicht. Der kenianische Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong'o gilt nicht nur als Gigant der afrikanischen Literatur, sondern auch als scharfer Kritiker der neokolonialen Ausbeutung und Korruption im heutigen Afrika und als Verfechter der afrikanischen Sprachen.


„Jeder Mensch, ob in Afrika oder Europa, hat ein Recht auf seine Muttersprache oder auf die Sprache seiner Kultur, und es spielt keine Rolle, ob diese Sprache nur von fünf Menschen gesprochen wird.“

Manchmal kann es ein revolutionärer Akt sein, in seiner Muttersprache zu schreiben. Das erfuhr Ngũgĩ wa Thiong'o, damals ein bekannter Autor und beliebter Professor an der Universität Nairobi, als 1977 das Theaterstück „Ich heirate, wann ich will“ (Ngaahika Ndeenda), das er zusammen mit dem Dramatiker Ngũgĩ wa Mĩriĩ verfasst hatte, in einem Volkstheater aufgeführt wurde. Beide Autoren wurden zu Staatsfeinden erklärt, verhaftet, gefoltert und ohne Prozess ein Jahr lang im Kamithi-Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt. Auch wenn das Stück die regierenden Eliten angriff, war nicht dessen politische Botschaft der Hauptgrund für die Verhaftung, sondern die Tatsache, dass es in der einheimischen Sprache Gikuyu aufgeführt wurde.

Für einen Schriftsteller kann es tödlich sein, wenn man ihm seine Bücher, Papier und Schreibwerkzeug raubt. Dass man ihm im Gefängnis zwei Blätter Papier und einen Kugelschreiber aushändigte, war für Ngũgĩ die Rettung. Sogleich begann er zu schreiben. Die Blätter waren bald voll, und so schrieb er auf Toilettenpapier weiter. Das Gefängnis-Toilettenpapier war hart, wahrscheinlich um die Gefangenen zu bestrafen, erzählte er in einem Interview, für seine Zwecke aber gut geeignet. Als sich das beschriebene Toilettenpapier fast bis zur Decke stapelte, wurde es von den Gefängniswärtern konfisziert. Am Ende seiner Haft wurden ihm die Aufzeichnungen jedoch vom Gefängnisdirektor ausgehändigt. Wahrscheinlich konnte er sie nicht lesen oder hielt sie für unwichtig, vermutet Ngũgĩ. Ein Glück für ihn und alle Literaturbegeisterten. Ergebnis war das aufsehenerregende Werk „Caitaani mũtharaba-inĩ“ (Der gekreuzigt Teufel), der erste moderne Roman, der in Gikuyu geschrieben war.

Während seiner Haft hat er sich immer wieder die Frage gestellt, warum es für die kenianische Regierung so bedrohlich war, wenn ein Autor seine Muttersprache verwendet. Warum haben die Kolonisatoren immer als erstes danach getrachtet, die eigene Sprache durchzusetzen? Er kommt zu dem Schluss, dass es darum geht, das Denken der Kolonialisierten zu kontrollieren. „Sie [die Kolonialsprache] wird zur Sprache der Bildung, der Intellektuellen und der Forschung, während die afrikanischen Sprachen nur gut zum Reden sind, aber nicht gut für Ideen oder für Politik“, erklärt Ngũgĩ, was dazu führte, dass auch die neuen Machthaber nach der Unabhängigkeit das koloniale System weiterführten. Ähnlich ist man in Irland, in Amerika, in Australien und Neuseeland verfahren: Die einheimischen Sprachen wurden unterdrückt und verboten.

„In Schulen und Universitäten wurden unsere Sprachen – die vielen Sprachen, die das Wesen Kenias ausmachen – mit negativen Eigenschaften von Rückständigkeit, Unterentwicklung, Demütigung und Bestrafung besetzt“, schrieb Ngũgĩ in seiner Abhandlung Decolonising the Mind. „Von uns, die wir dieses Schulsystem durchlaufen haben, wurde erwartet, dass wir bei unserem Studienabschluss mit Hass auf diese Menschen und ihre Kultur blicken, dass wir die Kultur und die Werte unserer täglichen Erniedrigung und Züchtigung verinnerlicht haben würden. Ich will nicht zusehen müssen, wie kenianische Kinder mit dieser vom Imperialismus aufgezwungenen Tradition der Verachtung der Kommunikationswerkzeuge aufwachsen, die ihre Gemeinschaft und ihre Geschichte entwickelt hat. Ich will, dass sie die koloniale Entfremdung überwinden.“

Zahlreiche afrikanische Schriftsteller und Schriftstellerinnen haben seither viele wunderbare und erstaunliche Werke veröffentlicht. Was sich nicht verändert hat, ist, dass die meisten davon in Englisch oder Französisch geschrieben werden, denn es gibt kaum Verlage, die Bücher in afrikanischen Sprachen herausgeben. Ngũgĩ möchte nicht missverstanden werden. Er ist nicht gegen die englische Sprache, betont er, immerhin ist er Englisch-Professor, er will nur nicht, dass die Kolonialsprachen die einzigen sind, in denen in Afrika geschrieben, unterrichtet, geforscht und philosophiert wird. Für ihn ist der Kampf um die Sprachen der Kampf zur Wiedereroberung der afrikanischen Seele.

Aufgrund der Verfolgung begab sich Ngũgĩ ins Exil nach Großbritannien und später in die USA, wo er an verschiedenen Universitäten unterrichtete. Als er nach dem Rücktritt von Diktator Arap Moi nach 24 Jahren Exil im August 2004 erstmals wieder nach Kenia reiste, wurden er und seine Frau von vier Männern überfallen, die ihn verprügelten und seine Frau vergewaltigten. Seitdem haben sich die politischen Verhältnisse in Kenia verändert. 2022 wurde das Stück „Ngaahika Ndeenda“, das ihn und seinen Koautor 45 Jahre zuvor ins Gefängnis gebracht hatte, in Nairobi bei ausverkauften Sälen aufgeführt. Die Rückkehr des kontroversiellen Stücks über Themen wie Klassenkampf, Religion, Tradition und Moderne, Familie und Geschlechterrollen im postkolonialen Afrika kann als Zeichen des Wandels zu Demokratie und Meinungsfreiheit angesehen werden.

Es gibt zahlreiche außerordentlich ausdrucksstarke und kreative Schriftsteller und Schriftstellerinnen, aber wer von ihnen hat es jemals geschafft, dass ein real existierender Präsident nach der Hauptfigur seines Romans fahndet? Als 1986 Ngũgĩs satirischer Roman „Matigari“ erschien, in dem ein ehemaliger Mau-Mau-Freiheitskämpfer plötzlich aus den Wäldern auftaucht und – wie Jesus – die Ärmsten, Ausgestoßenen und Rechtlosen um sich versammelt, verbreitete der kenianische Geheimdienst die Meldung, dass ein Mann namens Matigari zum Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit aufrufe, woraufhin die Behörden anordneten, diesen Mann aufzuspüren und zu verhaften.

Quellen: Interview mit Steve Paulson: www.ttbook.org │ scroll.in

veröffentlicht in Talktogether Nr. 89/2024