Kein Mensch wird als Schaf geboren PDF Drucken E-Mail

Kein Mensch wird als Schaf geboren

von Andreas Peglau

Neoliberalismus ODER Demokratie

Rainer Mausfelds Buch ist im Wesentlichen eine Zusammenstellung von VortrĂ€gen, Artikeln und Interviews. Es bietet eine vehemente, bis zurĂŒck in die Antike gefĂŒhrte Analyse dessen, was auch in unserem Land unter „Demokratie“ firmiert – aber, so Mausfeld, bestenfalls „Elitendemokratie“ genannt werden könne.

Doch die Macht- und Profitinteressen wirtschaftlicher und politischer Eliten gehen, wie er zeigt, nicht zusammen mit der Selbstbestimmung von Völkern ĂŒber die eigenen Lebensfragen. Insbesondere „Neoliberalismus und Demokratie sind in der Tat miteinander unvereinbar. [
] Demokratie wird [
] nur soweit als ‚zulĂ€ssig‘ angesehen, wie der Bereich der Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen verschont ist – also solange sie keine Demokratie ist“ (S. 30).

Mausfeld weist nach, dass dies nichts Neues ist und dass Vertreter der Herrschenden das vielfach ebenso sehen und sahen.

Schon der griechische Historiker Thukydides (454-399 v. u. Z.) befĂŒrwortete eine Staatsform, die „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des Ersten Mannes“ sein solle. James Madison (1751-1836), einer der „VĂ€ter“ der US-amerikanischen Verfassung, forderte eine Machtkonstellation, die „die Minderheit der Reichen gegen die Mehrheit der Armen schĂŒtzt“.
Der Sigmund-Freud-Neffe Edward Bernays, Experte fĂŒr Werbung und Propaganda, schrieb 1928: „Die bewusste und intelligente Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften“. Das Wall-Street-Journal konstatierte 2013, das „neoliberale Programm“ sei „nicht mehr demokratisch abwĂ€hlbar“. 2015 charakterisierte Ex-US-PrĂ€sident Jimmy Carter sein Land als „Oligarchie“ (S. 28-32).

Das Wirken dieser Oligarchen – nicht etwa nur in den USA –, der Siegeszug des nach weltweiter totalitĂ€rer Herrschaft strebenden Neoliberalismus (S. 101ff.) gehe einher mit „systematische[r] Verrechtlichung der organisierten KriminalitĂ€t der herrschenden Klasse“ (S. 99). Gleichzeitig damit werde weiter eine Volksherrschaft vorgegaukelt – was sich seit Langem als effektivste und billigste Methode fĂŒr Machthaber erwiesen habe, um Massen ruhig zu stellen und selbst nach Bedarf schalten und walten zu können (S. 138-149).

Zwischendurch dĂŒrfe zwar auch gewĂ€hlt werden, aber Wahlen seien „weitgehend eine Art Politentertainment und Zuschauersport“ (S. 240). Die großen Parteien – Mausfeld nennt sie „Kartell-Parteien“ – dienten als „Wahlmaschinen“ der „LegitimitĂ€tssicherung“ unserer Pseudodemokratie (S. 199). Diese „Kartellparteien haben“ daher auch

„jenseits aller rhetorischen Bekundungen keine wirkliche Angst vor Rechtspopulismus und ĂŒbersteigertem Nationalismus; beides haben sie selbst immer wieder recht erfolgreich genutzt und integriert. Wirklich bedrohlich wĂ€re fĂŒr sie dagegen ein gesellschaftlicher Wandel, der an die Wurzeln gegenwĂ€rtiger MachtverhĂ€ltnisse ginge“ (S. 208).

Rainer Mausfelds Auflistung der Massenmorde, Kriege, der Verarmung, des Hungers und der Not, die in unserem Namen auch von unserem Staats- und Wirtschaftssystem weltweit herbeigefĂŒhrt oder unterstĂŒtzt werden (S. 12ff.), wĂ€hrend wir uns im Schein angeblicher Demokratie sonnen, illustriert eindrucksvoll die soziale Situation auf unserem Planeten.
Auch unser relativ gutes Leben in Deutschland ist verknĂŒpft mit millionenfachem Elend in anderen Regionen. Was sich nach innen (noch) als demokratisch gibt, hat nach außen vielfach ein offen brutales destruktives Gesicht.

Ich stimme Mausfeld ebenfalls zu, wenn er den „Leitmedien“ dieses Landes vorwirft, all das immer dreister durch Tatsachenverdrehungen zu flankieren, so auch – bewusst oder unbewusst – beizutragen zu einer „radikalen GegenaufklĂ€rung“ (S. 105). Er erlĂ€utert zudem die fĂŒr diese Manipulation hauptsĂ€chlich verwendeten Mechanismen und Tricks, zum Beispiel: unbequeme Fakten zu bloßen Meinungen abwerten, miteinander verflochtene Informationen ihres Zusammenhangs berauben und sie in einen fĂŒr die beabsichtigte Manipulation passenden neuen Kontext zwĂ€ngen (S. 34).

Letzteres wird auch von dem Friedensforscher Daniele Ganser ausfĂŒhrlich diskutiert unter dem Stichwort „Framing“. Hinweise auf Ganser habe ich bei Mausfeld ebenso vermisst – oder nicht gefunden? – wie auf den Medienforscher Uwe KrĂŒger, dessen Buch „Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse“ in differenzierter Weise die organisatorischen Strukturen und politischen Haltungen beschreibt, die wichtige deutsche Medienlenker miteinander verbinden (siehe dazu auch hier).

Trotz dieser Detailkritik: Eine so schlĂŒssige Darstellung des demokratiefeindlichen Wechselspiels zwischen Vertretern von Politik, Wirtschaft und Medien wie bei Rainer Mausfeld habe ich zuvor nicht gelesen. Daher kann ich sein Buch nur dringend empfehlen.

Warum lassen wir uns beschwindeln?

WĂ€hrend ich Mausfelds Gesellschafts- und Medienanalyse, die den Hauptteil des Buches ausmacht, also weitgehend zustimmen kann, gelingt mir das nicht bei dem von ihm vertretenen Menschenbild – aus dem er wiederum seine LösungsvorschlĂ€ge ableitet.

Denn seine Darstellung ist durchzogen von der (sinngemĂ€ĂŸen) Aussage: Ihr könnt kaum etwas dafĂŒr, dass euch die Eliten und deren Leitmedien beschwindeln. Dass wir das zumeist nicht durchschauen, lĂ€ge an „natĂŒrlichen Schwachstellen des menschlichen Geistes“ (S. 65), die wir als „Disposition“ in uns trĂŒgen. „Wir können uns nicht dagegen wehren [
]: Je hĂ€ufiger [eine Versuchsperson] eine Meinung hört, umso stĂ€rker steigt der gefĂŒhlte Wahrheitsgehalt“ (S. 35). Und:

„Wir können also den psychologischen Effekten, die sich Manipulationstechniken gezielt zunutze machen, nur dadurch entgehen, dass wir die auslösende Situation so gut es geht, vermeiden“ und uns somit bestenfalls „einen Rest von Autonomie [
] bewahren“ (S. 52).

Dementsprechend heißt es dann (unter Bezug auf die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus):

„Offensichtlich genĂŒgt es, kontinuierlich zu behaupten, das Volk sei wesensmĂ€ĂŸig irrational, infantil, triebhaft, launenhaft, selbstsĂŒchtig, rationalen Argumenten nicht zugĂ€nglich, und die Eliten seien wesensmĂ€ĂŸig intelligent, gebildet und rational“ (S. 67).

Doch wieso genĂŒgt es? Solche Behauptungen sind doch mit nur zwei Blicken als Lachnummer enttarnt: einer in die Tagesschau, aktuell am besten auf Spitzenpolitiker, die gerade eine Wahlschlappe wegfaseln – und ein zweiter in den eigenen Spiegel!

Politische Dumpfheit, Untertanengeist, aber auch bereitwillige bis fanatische Übernahme von Tatsachenentstellungen („Die FlĂŒchtlinge sind unser Hauptproblem!“) werden von Mausfeld so nahezu gleichgesetzt mit dem kaum vermeidbaren Hereinfallen auf optische TĂ€uschungen (S. 26) und mittels Wahrnehmungspsychologie – vermeintlich – erklĂ€rt. Da die Eliten unsere Schwachstellen kennen, können sie uns seiner Ansicht nach leicht an der Nase herumfĂŒhren (S. 66).

Ja, Politiker, Parteien, Massenmedien verbreiten zuhauf Fehldarstellungen. Aber schon 1933 hat Wilhelm Reich in der Massenpsychologie des Faschismus angemerkt, dass bĂŒrgerliche Parteien – er bezog es damals insbesondere auf die SPD – nun mal die Funktion haben, „Illusionen zu verbreiten“, dass „die politische Reaktion“ – damals vor allem in Gestalt der NSDAP – die Massen nach Möglichkeit „vernebelt, verfĂŒhrt und hypnotisiert“. Das sei doch aber nun mal, fĂŒgte er hinzu, genau die Rolle „rechter“ KrĂ€fte. Und er schloss daraus:

„Liegt nicht nahe, zu fragen, was in den Massen vorgeht, dass sie diese Rolle nicht erkennen wollten und konnten? [
] Die Grundfrage ist: Warum lassen sich die Arbeiter politisch beschwindeln? Sie hatten alle Möglichkeiten, die Propaganda der verschiedenen Parteien zu kontrollieren. Warum entdeckten sie nicht etwa, dass Hitler den Arbeitern Enteignung des Besitzes an Produktionsmitteln und den Kapitalisten Schutz vor Streiks gleichzeitig versprach?“

Auch heute steht die Frage: Warum lassen wir uns beschwindeln – obwohl doch durch das Internet in einem nie gekannten Maße alternative, leicht erreichbare Informationsquellen vorhanden sind? Die Antworten, die Rainer Mausfeld darauf gibt, sind nicht ĂŒberzeugend.

Schwachstellen menschlichen Geistes?

Auf Seite 128 seines Buches wird er von den Nachdenkseiten gebeten, doch mal eine der „Schwachstellen unseres Geistes“ konkret anzugeben. Er nennt nun eine „natĂŒrliche Disposition“, „den „jeweiligen Zustand der Gesellschaft, in der wir leben, als [
]  erstrebenwert anzusehen“, auch dann, wenn „bessere Alternativen“ vorhanden sind.

Aber er notiert doch selbst (S. 12ff.), dass Milliarden von Menschen ihr Dasein auf diesem Planeten nur noch als Opfer empfinden können, leiden, gefoltert oder getötet werden oder an Hunger verrecken. Ich kann nicht glauben, dass er meint, diese fĂ€nden ihren Zustand erstrebenswert. Schon das heißt: Es ist eben keine Menschheitskonstante, keine „natĂŒrliche Disposition“, schlechte LebensumstĂ€nde gut zu finden.
Es wĂŒrde auch niemand nach Europa flĂŒchten, der mit seinen LebensumstĂ€nden zuhause zufrieden ist. Das DDR-Ende wĂ€re gleichfalls nicht zu verstehen, wenn es diese „natĂŒrliche Disposition“ gĂ€be: Die DDR-BĂŒrgerinnen und -BĂŒrger hielten mehrheitlich ihr System fĂŒr die schlechtere Alternative – und ließen es letztendlich zusammenbrechen.

Aber vor allem lÀsst sich hier auf die Entwicklungspsychologie verweisen: Babys protestieren lautstark gegen jeden Leid verursachenden Zustand wie Hunger oder Einsamkeit. (Jedenfalls so lange, bis ihnen das möglicherweise ausgetrieben wird).
So kommen wir auf die Welt: als Wesen, die – wenn nötig – rebellieren, mit aller Kraft. Und die neugierig sind, Fragen stellen, die Welt erkennen, kreativ auf sie einwirken wollen. Nur ist bei uns Erwachsenen meist kaum noch etwas davon verfĂŒgbar bzw. bewusst.

Das anzuerkennen, ist zum einen wichtig, um zu begreifen, weshalb „die LĂ€mmer“ tatsĂ€chlich schweigen. Zum anderen: weil es Hoffnung macht auf ein angeborenes Potential zur WeltverĂ€nderung.

Doch Rainer Mausfeld vertritt offenbar ein anderes Menschenbild, das sich zu bewegen scheint zwischen „Der Mensch ist ein unbeschriebenes Blatt, wenn er auf die Welt kommt“ und „Der Mensch ist anlagegemĂ€ĂŸ zu allem Schlimmen fĂ€hig“, zum Beispiel dazu, zu foltern:

„FrĂŒh – nĂ€mlich vor etwa 14.000 Jahren [
] – erkannte Homo sapiens, [
] dass er befĂ€higt ist, auch seinesgleichen als Werkzeug zu betrachten und seinen Intentionen zu unterwerfen – eine in der Natur einzigartige BefĂ€higung und die Grundlage zur Entwicklung von Krieg, Sklaverei und Folter. Die BefĂ€higung zur Folter lĂ€sst sich geradezu als Humanspezifikum betrachten, wie das Lachen, die Kunst oder die Sprache“ (S. 253).

Auch „Rassismus“ mĂŒsse „eine geeignete Grundlage in bestimmten Eigenschaften und Neigungen unseres Geistes haben“. In welcher Weise die ohnehin vorliegende „Ausgrenzungsbereitschaft [
] aktiviert“ werde, hĂ€nge dann „wesentlich“ ab „von kulturellen Faktoren“. Einmal mehr ordnet er das ein als „Schwachstelle unseres Geistes“. Er setzt fort:

„Die psychischen WiderstĂ€nde gegen die Idee einer universellen MenschenwĂŒrde und damit einer Gleichwertigkeit aller Menschen haben ihre Wurzeln in der natĂŒrlichen (!) Neigung des Menschen, den als fremd empfundenen anderen nicht im vollen Umfang das zu gewĂ€hren, was er an MenschenwĂŒrde ganz selbstverstĂ€ndlich fĂŒr sich selbst beansprucht“ (S. 243).

Ich weiß nicht, ob Rainer Mausfeld bewusst ist, dass er damit zugleich die Realisierbarkeit des von ihm befĂŒrworteten „linken“ Projekts infrage stellt. Denn er definiert: „Links ist, wer sich fĂŒr die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen (‚universeller Humanismus‘) und fĂŒr eine demokratische Einhegung der Macht einsetzt“ (S. 209).
„Links“ zu sein, wĂŒrde also entsprechend seiner Vorstellungen bedeuten, die eigene Natur zu unterdrĂŒcken.

RealitÀtsgerechtere Menschenbilder

Ich kann als Vorlage fĂŒr eine sinnvolle Diskussion des Themas „Menschenbild“ hier nur einmal mehr auf Erich Fromms 1973 erschienenes Buch „Anatomie der menschlichen DestruktivitĂ€t“ verweisen. Anhand diverser Befunde aus Psychoanalyse, (Sozial-)Psychologie, PalĂ€ontologie, Anthropologie, Neurophysiologie, Tierpsychologie und Geschichtswissenschaft belegt Fromm unsere angeborene FĂ€higkeit zu konstruktivem, prosozialem Verhalten.
Er zeigt auch, in welcher Weise wir zuerst psychisch verunstaltet werden mĂŒssen, um uns dann derart destruktiv zu verhalten, wie sich das unter anderem im Verfolgen und QuĂ€len Anderer niederschlĂ€gt. Die „BefĂ€higung“ zur Folter ist bereits das Symptom einer schwerwiegenden, herbeisozialisierten seelischen Störung.

Wer aktuellere Belege dafĂŒr sucht, findet sie zum Beispiel in der Neurobiologie und -psychologie, in BĂŒchern von Gerald HĂŒther oder Joachim Bauer. Auch eine 2007 veröffentlichte Untersuchung der Yale-UniversitĂ€t konnte zeigen, dass SĂ€uglinge sich mit verfolgten, unterdrĂŒckten Figuren solidarisieren – was sich erst im Laufe ihrer weiteren Sozialisierung abschwĂ€cht oder gar ins Gegenteil kippt.

WidersprĂŒche bei Rainer Mausfeld

Manche von Mausfelds von mir hier kritisierte Aussagen stehen immerhin im – von ihm leider nicht reflektierten – Widerspruch zu anderen Thesen seines Buches. So zum Beispiel, wenn er festhĂ€lt, „natĂŒrlich (!) stört es die Mehrheit der Bevölkerung, dass sie einen immer geringer werdenden Anteil an den von der Bevölkerung erwirtschafteten Gewinnen hat“ (S. 161). Oder:

„[Wir] verfĂŒgen [
] von Natur aus ĂŒber ein reiches Repertoire an Möglichkeiten unseres Verstandes, um Manipulationskontexte erkennen und somit aktiv vermeiden zu können. Wir verfĂŒgen gleichsam ĂŒber ein natĂŒrliches Immunsystem gegen Manipulation. Wir mĂŒssen uns nur entschließen, es zu nutzen“ (S. 52).

Ich wĂŒrde stattdessen formulieren:

Wir verfĂŒgen von Natur aus ĂŒber gesunde psychische MaßstĂ€be, die uns erkennen lassen könnten, was gut und schlecht fĂŒr uns ist. Das wĂŒrde uns unter anderem helfen, Manipulationskontexte zu erkennen und somit aktiv vermeiden zu können.
Wir verfĂŒgen gleichsam ĂŒber ein natĂŒrliches Immunsystem gegen Manipulation. Nur ist dieses in aller Regel durch unsere entfremdende, autoritĂ€re Sozialisation verschĂŒttet. Wir mĂŒssen uns daher entschließen, es mĂŒhsam wieder „auszugraben“ – zum Beispiel durch eine tiefgrĂŒndige Psychotherapie –, um es nutzen zu können.

Dass derartige „Ausgrabungen“ möglich sind, demonstriert Mausfelds Buch ebenso wie zahllose andere sozialkritische Publikationen.

Da Rainer Mausfeld die erwĂ€hnten psychosozialen HintergrĂŒnde ausblendet, dĂŒrfte die LektĂŒre seines Buches einerseits die Wut auf „die da oben“ beleben – ohne jedoch zugleich zum notwendigen Nachdenken darĂŒber anzuregen, welche eigenen Anteile, Störungen aus unserer Lebensgeschichte, Kindheit, Elternbeziehung dieses Sich-Manipulieren-Lassen ĂŒberhaupt erst ermöglichen.

Wir werden nicht erst durch Medien vielfach verdummt, sondern wir werden spĂ€testens von Geburt an, in Familie, Kindergarten und Schule psychisch so geformt – genauer gesagt: deformiert – dass wir möglichst reibungslos in die bestehende Gesellschaft passen.
Aber das geschieht in der prĂ€genden Anfangsphase unseres Lebens ja nicht etwa durch Eliten. Sondern durch Eltern, Kita-Erzieherinnen, Ärzte, Lehrer usw. Wir deformieren unsere Kinder selbst – wenn auch im oftmals unbewussten „Auftrag“ der Herrschenden und auf Grundlage von deren, von uns lĂ€ngst verinnerlichter Ideologie.

Das war auch der Grund, weshalb Wilhelm Reich sein Augenmerk auf den Schutz der „Kinder der Zukunft“ vor dieser psychosozialen Zurichtung lenkte. Diese Zurichtung erst schafft die Basis dafĂŒr, dass wir die uns umgebende Gesellschaft inklusive der Botschaften der Medien als Erwachsene zumeist nicht in Frage stellen, dass wir „funktionieren“ – und so die gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse am Laufen halten, unter denen auch wir selbst leiden.
Wir Erwachsene sind mitverantwortlich fĂŒr das, was Wirtschafts- und Politikeliten mit unserem Staat und mit uns tun – inklusive medialer Verdummung. Ohne unsere massenhafte Duldung und UnterstĂŒtzung wĂ€ren Eliten handlungsunfĂ€hig.

Diese bittere Erkenntnis erspart uns Mausfeld. Damit fĂ€llt zugleich die ermutigende Kehrseite dieser Situation unter den Tisch: WofĂŒr wir mitverantwortlich sind, darauf können wir Einfluss nehmen.

Lösungen

Rainer Mausfelds wichtigste LösungsvorschlĂ€ge sind, soweit ich sehe: Mehr Verstand einsetzen (S. 52) bzw. den „Leitidealen“ der AufklĂ€rung „neue Strahlkrafft verleihen“ (S. 274), weniger Medien konsumieren (S. 52) und das Mediensystem radikal demokratisieren (S. 172). Diese VorschlĂ€ge kann ich unterschreiben.
Doch sie greifen entschieden zu kurz, ebenso wie Mausfelds EinschĂ€tzung, die politische PassivitĂ€t der Massen sei das Resultat „einer jahrzehntelangen systematischen Indoktrination durch die herrschenden Eliten“ (S. 106).

Wilhelm Reich, der 1933 detailliert analysierte, wie uns autoritĂ€r-gefĂŒhlsunterdrĂŒckende Erziehung und Sozialisation erst zu den „schweigenden Schafen“ machen, ĂŒber die nun auch Mausfeld schreibt, schlussfolgerte: Nicht nur der Kapitalismus muss ĂŒberwunden werden, sondern mit ihm die jahrtausendealte patriarchalische Tradition autoritĂ€rer GefĂŒhls- und SexualunterdrĂŒckung, der systematischen, spĂ€testens bei der Geburt beginnenden Entfremdung der Menschen von sich selbst.
Reich schrieb auch: „[J]ede Gesellschaftsordnung erzeugt in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen, die sie fĂŒr ihre Hauptziele braucht“. Und:

„In der Klassengesellschaft ist es die jeweils herrschende Klasse, die mit Hilfe der Erziehung und der Familieninstitution ihre Position sichert, indem sie ihre Ideologien zu den herrschenden Ideologien aller Gesellschaftsmitglieder macht.“

Damit lieferte Reich die psychologische Basis fĂŒr einen bekannten Satz von Karl Marx und Friedrich Engels: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“
In der Tat: Dies gilt seit Jahrhunderten, galt auch, als es noch gar keine Massenmedien und kein „Framing“ gab. Die „Schafe“ schwiegen schon damals.
Warum wohl?

Ich meine: Die Erkenntnisse Rainer Mausfelds sollten dringend mit denen von Wilhelm Reich und Erich Fromm kombiniert sowie mit ergÀnzenden Befunden aus Entwicklungs- und Neuropsychologie abgeglichen werden.
Erst dann könnten wir umfassend begreifen, auf welche Weise wir alltĂ€glich manipuliert werden. Und nur wenn wir das begreifen, haben wir ĂŒberhaupt eine Chance, daran etwas zu Ă€ndern.

* * * * *

Ich danke Gudrun Peters, Manfred Lotze, GĂŒnter Rexilius und Hartmut RĂŒbner fĂŒr kritische RĂŒckmeldungen zu diesem Text.

https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/kein-mensch-wird-als-schaf-geboren-zu-warum-schweigen-die-laemmer-von-rainer-mausfeld/

veröffentlicht in Talktogether Nr. 67/2019