Wilhelm Reich, 1897-1957
Zum 120. Geburtstag und 60. Todestag
„Der Weg des Faschismus ist der Weg des Maschinellen, Toten, Erstarrten, Hoffnungslosen. Der Weg des Lebendigen ist grundsätzlich anders, schwieriger, gefährlicher, ehrlicher und hoffnungsvoller.“
1897 im östlichsten Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, in Galizien geboren, verlor Wilhelm Reich als Jugendlicher auf tragische Weise seine Eltern. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich als 17-Jähriger freiwillig zur österreichisch-ungarischen Armee, wo er an der Isonzo-Front diente, einer der blutigsten Frontabschnitte des Ersten Weltkriegs. Dort erlebte er, wie der Krieg seine Kameraden verrohen ließ und in willenlose Tötungsmaschinen verwandelte. Er kam zum Schluss: „Die Brutalität des Weltkriegs wäre unmöglich gewesen, hätte nicht das Machtbedürfnis einiger weniger den Anschluss an die latente Grausamkeit des Einzelnen gefunden.“
Am Ende des Krieges kam Reich nach Wien, wo Elend, Hunger und Orientierungslosigkeit herrschten. Er begann an der Universität zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften, erkannte jedoch sehr bald, dass „die antisozialen Handlungen der Menschen nicht als Verbrechen, sondern als Krankheiten anzusehen sind, dass sie nicht zu bestrafen, sondern zu heilen und vorzubeugen sind.“ Er wechselte an die Medizinische Fakultät, wo er aber mit der völligen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften und der Vorstellung vom Menschen als biochemische Maschine konfrontiert war.
So löste die Begegnung mit Freud in ihm sowohl Begeisterung als auch Erleichterung aus. Er wurde mit 20 Jahren als einer der jüngsten in die Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. Freud forschte als Arzt und Neurologe auch an den physischen Ursachen für Neurosen. Er entwickelt die Theorie der Libido, in der er die gestaute Triebenergie als körperliche Ursache für neurotische Störungen definierte. Während Freud der Libido-theorie bald weniger Aufmerksamkeit schenkte, wurde sie für Reich zum Ausgangspunkt seiner weiteren Forschungen. In „Die Funktion des Orgasmus“ wies er darauf hin, dass neurotische Angst aus der Hemmung entstehe, sich den Strömen der biologischen Energie hinzugeben.
Anders als seine Kollegen, die ausschließlich Patient_innen aus bürgerlichen Kreisen behandelten, engagierte sich Reich in einem Ambulatorium für Mittellose. Dort wurde ihm schnell klar, dass die Neurose keine Marotte verwöhnter Damen, sondern eine Massenerkrankung war, für die er die lustfeindliche Erziehung und die unterdrückende Sozialisation verantwortlich machte. Bestätigung für seine Thesen sollte er in den Berichten des Ethnologen Bronislaw Malinowski finden. Dieser hatte von 1915 bis 1918 auf den Trobriand-Inseln in der Südsee gelebt, bei deren Bewohner_innen er weder Anzeichen von Neurosen noch Gewalttätigkeit feststellen konnte.
Überzeugt, dass seelische Störungen ihre Ursache in den gesellschaftlichen Verhältnissen haben, wollte sich Reich nicht damit begnügen, Individuen zu behandeln, sondern plädierte für eine Veränderung der Verhältnisse. Im Marxismus fand er die Gesellschaftstheorie, die seine therapeutischen Erfahrungen ergänzte. Er begann, sich in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu engagieren und trat dann heimlich auch in die Kommunistische Partei Österreichs ein.
Nachdem im Jahr 1927 Rechtradikale, die in der Ortschaft Schattendorf Arbeiter ermordet hatten, vor Gericht freigesprochen wurden, setzten erzürnte Arbeiter den Justizpalast in Brand. Bei der blutigen Niederschlagung des Aufstands konnte Reich beobachten, wie Polizisten mitten in die Menge der protestierenden Arbeiter schossen – wie gefühllose Maschinen. Reich untersuchte die Ursache für diese Abgestumpftheit. In seinem Buch „Charakteranalyse“ schilderte er die Beobachtung eines Charakterpanzers bei Patienten, in dem Gefühle blockiert sind, um sich vor Konflikten zu schützen. Die Charakterverhärtung manifestiere sich in einem Muskelpanzer. Damit begründete er die Vegetotherapie, die direkt am Körper des Patienten arbeitet und versucht, die Panzerungen aufzulösen.
Bald kam er in Konflikt mit Freud, der sein politisches Engagement missbilligte und sich öffentlich von ihm distanzierte. Er übersiedelte nach Berlin, wo er mehr Offenheit erhoffte. Er wurde Mitglied der KPD und eröffnete mit Gleichgesinnten Sexualberatungsstellen, wo es vor allem um Schwangerschaftsberatung, Verhütung und Aufklärung ging.
In seiner „Massenpsychologie des Faschismus“ analysierte er den Zusammenhang zwischen autoritärer Triebunterdrückung und faschistischer Ideologie. Er beschrieb die faschistische Ideologie als eine Verbindung zwischen rebellischen Emotionen und reaktionären Ideen und warnte davor, den Faschismus zu unterschätzen, da es sich – im Gegensatz zu anderen reaktionären Strömungen – um eine von den Menschenmassen getragene Bewegung handle. Darüber hinaus entwarf er die Vision einer Gesellschaft, die ohne Repression auskommt, weil sie den Menschen mit seinen Bedürfnissen achtet und nicht ändern, sondern nur befreien will, was naturgegeben ist.
Nach der Machtübernahme der Nazis flüchtete Reich nach Skandinavien, bis ihn Malinowski 1939 in die USA holte. Im Exil in den USA untersuchte Reich die psychischen Ursachen der Krebsentstehung. In Experimenten entdeckte er eine neue Energieform, die er Orgon nannte, und die man mit der kosmischen Lebensenergie vergleichen könnte, die in China als Chi und in Indien als Prana bezeichnet wird. 1947 während der berüchtigten McCarthy-Ära setzte eine beispiellose Hexenjagd gegen Reich ein, in deren Folge sein gesamtes Lebenswerk vernichtet und er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wo er am 3. November 1957 starb.
Reichs wissenschaftliche Thesen waren provokant und seine politischen Forderungen radikal. Er wurde aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, aus der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, aus der Kommunistischen Partei Deutschlands und sogar aus der Kommunistischen Partei Dänemarks, wo er niemals Mitglied gewesen war, ausgeschlossen. Zweimal wurden seine Bücher verbrannt: Nach Hitlers Machtergreifung und 1956 in den USA. Reich starb verfolgt und isoliert. Auch heute wird seine Arbeit weitgehend ignoriert, obwohl sie uns wertvolle Antworten auf brennende Fragen unserer Zeit geben kann.
Quellen:
veröffentlicht in Talktogetner Nr. 62/2017
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