Interview mit Omar Khalif
„Bevor man ein guter Christ oder ein guter Muslim wird, ist man entweder ein guter und ethisch handelnder oder ein gewalttätiger oder kranker Mensch. Auch ein gelehrter Priester oder Scheich muss kein Heiliger sein.“
Könnten Sie erklären, warum die Reaktionen in den islamischen Ländern auf das Mohammed Video so heftig waren?
Omar: Ich kann nicht erklären, warum die Aufregung so groß war, genau so wenig, wie ich erklären kann, warum dieser Mann das Video gemacht hat. Ich kann nur Vermutungen äußern. Für mich erscheinen solche Provokationen wie eine Falle, in die man die Muslime lockt, damit man danach sagen kann: „Schaut her, wie aggressiv und gewalttätig sie sind.“ Für mich handelt es sich dabei um die gezielte Absicht zu provozieren, und genau das wurde mit diesem Video erreicht. Ich finde die Reaktionen übertrieben und für mich als Muslim unverständlich. Es ist gerechtfertigt, auf die Straße zu gehen und eine Stellungnahme abzugeben, um zu zeigen, dass man diese Provokation und Verleumdung nicht akzeptiert. Aber es gibt keine Rechtfertigung dafür, Menschen zu gefährden oder zu töten. Ich denke nicht, dass der Prophet Mohammed so ein Verhalten befürwortet hätte. Der Koran erlaubt zwar, sich gegen einen Angreifer zu verteidigen, es ist aber verboten, unbeteiligte und unbewaffnete Menschen anzugreifen. So heißt es zum Beispiel: Du darfst niemanden angreifen, der auf dem Feld arbeitet.
Was ist für Sie der Unterschied zwischen Islamkritik und Islamphobie? Wo ist für Sie die Grenze zwischen Kritik und Diffamierung?
Omar: Wer den Islam ernsthaft und konstruktiv kritisieren will, muss zuerst den Koran lesen und sich damit auseinandersetzen. Trotzdem kann man von uns nicht erwarten, dass wir uns für den Koran entschuldigen oder deswegen Passagen ändern. Das würde ja auch niemand von der Bibel verlangen. Ich lebe seit über 20 Jahren in Österreich und habe viel an der Kirche und der Gesellschaft zu kritisieren, aber dafür kann ich nicht die Bibel verantwortlich machen. Ich bin sicher, dass Jesus nie gesagt hat, dass die Christen andere Menschen versklaven und verkaufen dürfen. Jesus hätte auch nie gebilligt, dass in seinem Namen andere Länder kolonialisiert und ausgebeutet werden. Wer das weiß, soll auch glauben können, dass Mohammed u.a. abgelehnt hat, unschuldige Menschen zu töten oder Kirchen anzuzünden.
Die Islamphobie hat sich in den letzten Jahren stark ausgebreitet. Seit dem 11. September und dem Irakkrieg haben die Sensibilität und die Spannungen zwischen Okzident und Orient zugenommen. Keiner von beiden Seiten hat einen friedlichen Weg gesucht. Noch dazu kommen die schlechte politische und wirtschaftliche Lage der meisten arabischen und islamischen Länder und die Machtdemonstrationen des Westens.
Man kann behaupten, dass das, was früher antisemitischer Hass war, sich heute gegen Muslime gerichtet hat und von bestimmten politischen Kräften im Wahlkampf genützt wird. Während man sich heute wegen politischer Propaganda gegen das Judentum oder jüdische Menschen strafbar machen kann, zieht die Verletzung religiöser Gefühle von Muslimen und Musliminnen keine Konsequenzen nach sich, sondern wird als Meinungsfreiheit geschützt. Es muss aber auch gesagt werden, dass die Gewaltbereitschaft von Teilen der muslimischen Gesellschaft auch zu dieser Entwicklung beigetragen hat.
Ich denke aber nicht, dass es sich bei dem Video oder auch bei den Karikaturen, die kurz darauf in einer französischen Zeitung veröffentlicht wurden, um ernsthafte Kritik handelt, sondern um gezielte Provokationen. Wenn allerdings die islamische Gesellschaft mit friedlichen politischen Mitteln darauf reagieren und die Verleumdungen mit Argumenten widerlegen würde, würden diese Leute ihr Ziel nicht erreichen. Doch hier geht es um einen Kampf zwischen zwei extremistischen Strömungen: Zwischen denen, die nur auf einen Anlass für Gewalt warten, und jenen, die mit einer solchen Reaktion rechnen und sie hervorrufen wollen. Daher kommt die eine Seite nicht ohne die andere aus, sie ergänzen sich gegenseitig. Und so sind die Menschen gefangen zwischen zwei brüllenden Raubtieren.
Zu dem Vorwurf, der Koran wäre ein Plagiat der Bibel. Aus islamischer Sicht haben das alte und das neue Testament und der Koran eine gemeinsame Wurzel, sie alle werden von Muslimen als Grundlage ihres Glaubens herangezogen. Das zeigt, dass der Hersteller dieses Videos nicht ahnungslos war, der Provokateur der Gewalt ist somit selbst auch gewalttätig. Angenommen ich habe einen Lehrer und du hast einen Lehrer. Wie ist das, wenn ich deinen Lehrer beschimpfe, du aber nichts gegen meinen sagen darfst? Damit möchte ich sagen: Muslime dürfen weder Abraham, noch Moses, noch Jesus beleidigen, weil sie alle als Propheten verehrt werden. Deshalb dürfen Muslime nicht in gleicher Weise auf die Beleidigung reagieren.
Welche sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für die Gewaltbereitschaft in islamischen Ländern?
Omar: Menschen, die mit ihren Leben zufrieden sind, neigen nicht zu Gewalt. Aber junge Männer, die keine Arbeit und keine Beschäftigung haben, frustriert sind und für sich keine positiven Lebensperspektiven in ihrer Gesellschaft sehen, können leicht von Gewalthetzern beeinflusst werden, die ihre Schwäche und ihre Bedürfnisse ausnützen. Wenn sie dann noch Angebote in Form von Geld oder dem Versprechen, ins Paradies zu kommen, bekommen, ist es nicht verwunderlich, wenn sich ihre aufgestaute Wut in Gewalt entlädt. Aber diese Gewalt hilft niemandem, ein besseres Leben zu führen. Wenn Menschen Zugang zu Bildung haben, Arbeit und Perspektiven haben, finden sie andere Mittel, um ihren Protest auszudrücken.
Der Freitag ist in der islamischen Gesellschaft traditionell kein politischer, sondern ein religiöser Tag, an dem man Freunde und Verwandte besucht und sich gegenseitig einlädt. Doch dieser Tag wird für Gewalt missbraucht und viele haben Angst, am Freitag auf die Straße zu gehen. Seit Jahrhunderten haben Menschen mit unterschiedlichen Religionen und Kulturen in Frieden miteinander gelebt und sich gegenseitig zu ihren Feiertagen gratuliert und gemeinsam gefeiert. Es ist wirklich traurig zu sehen, dass heute nicht einmal Muslime unter sich friedlich feiern können. Zum Beispiel hat Brahimi die in Syrien kämpfenden Kräfte aufgefordert, während des Opferfestes eine dreitägige Feuerpause einzuhalten, sie hat aber leider nur drei Stunden gedauert.
Was verstehen Sie unter Meinungsfreiheit und wo endet sie?
Omar: Meiner Meinung nach endet die Meinungsfreiheit dort, wo ich andere Menschen verletze. Freiheit bedeutet, die Grenzen der anderen zu respektieren. In Europa wird viel über Menschenrechte und Meinungsfreiheit gesprochen. Doch auch in Europa sind Filme verboten worden, zum Beispiel Herbert Achternbuschs Film „Das Gespenst“, weil er, so lautete die Begründung, dem religiösen Empfinden des katholischen Teils der Bevölkerung nicht zugemutet werden könne. Kann man Muslimen zumuten, was Katholiken nicht zugemutet werden darf? Warum gilt die Meinungsfreiheit nicht für Julian Assange, der die Kriegsverbrechen im Irak an die Öffentlichkeit gebracht hat? Gleichzeitig kritisiert die EU China wegen Missachtung der Meinungsfreiheit. Ob die Meinungsfreiheit verteidigt wird, hängt davon ab, wer eine Meinung vertritt.
Gibt es Grenzen der Toleranz? Darf man zusehen, wenn Menschenrechte verletzt werden, auch wenn es im Namen einer religiösen Überzeugung geschieht?
Omar: Grundsätzlich gilt, dass das Opfer geschützt werden muss. Es gibt keinen Grund, einen Täter unter dem Vorwand von Religion oder Kultur zu schützen. In Deutschland ging einmal ein Fall durch die Medien: Ein Mann, der seine Frau geschlagen hatte, wurde vom Gericht nicht dafür verurteilt. Die Frau hätte damit rechnen müssen, dass ihr Mann sie schlägt, weil Züchtigungen bei Muslimen nicht unüblich seien, lautete das Argument einer Richterin. Damit gibt die Richterin der Frau zu verstehen, dass sie von den deutschen Gesetzen nicht geschützt wird. Dieses Urteil ist für mich völlig unverständlich, weil meiner Meinung nach Gewalt gegen Frauen nichts mit Kultur oder Religion zu tun hat, sondern gegen jedes gesunde menschliche Gefühl für Anstand verstößt.
Gibt es also ethische Werte, die universell sind und über den Religionen stehen?
Omar: Natürlich. Davon bin ich überzeugt. Ich sehe die heiligen Bücher als Anleitung für ein friedliches Zusammenleben, im Vordergrund muss aber immer das Wohlergehen der Menschen stehen. Sie dürfen nicht als Vorwand genommen werden, um anderen zu schaden oder sie zu bedrohen. Bevor man ein guter Christ oder ein guter Muslim wird, ist man entweder ein guter und ethisch handelnder oder ein gewalttätiger oder kranker Mensch. Auch ein gelehrter Priester oder Scheich muss kein Heiliger sein.
Vor kurzem gab es in Deutschland eine Debatte um die männliche Beschneidung, die von Judentum und Islam aus religiösen Gründen vorgeschrieben ist. Wie denken Sie darüber?
Omar: Ich frage mich, warum die Gesetzgebung Deutschlands sich plötzlich um die muslimischen und jüdischen Buben sorgt. Diesen Brauch gibt es in Europa, seitdem Juden hier leben. Warum wird es gerade jetzt als Körperverletzung angesehen? Interessant war für mich, dass damit Juden und Muslime gleichzeitig angegriffen wurden.
Ich denke, dass auch hier eine Grenze eingehalten werden muss. Das bedeutet, wenn der Arzt bestätigt, dass der Junge aus gesundheitlichen Gründen nicht beschnitten werden darf, darf es nicht durchgeführt werden, denn das Recht auf freie Religionsausübung darf das Wohlergehen des Kindes nicht gefährden. Wenn es um die Beschneidung eines Mädchens ginge, würde ich diesen Eingriff natürlich ohne Einschränkung ablehnen. Aber die Beschneidung von Buben stellt keine Verstümmelung und normalerweise auch keine Gesundheitsgefährdung dar. Natürlich muss gewährleistet sein, dass die Beschneidung unter bestmöglichen Voraussetzungen von Ärzten durchgeführt wird. Es gibt auch Männer, die weder Muslime oder Juden sind, und sich freiwillig aus medizinischen Gründen beschneiden lassen. Forschungen belegen sogar, dass die Übertragung von Krankheiten damit verringert werden kann. Anderseits, wenn ein Vater seinen Sohn gegen seinen Willen dazu zwingt, sollte man ihn schützen. Ich glaube aber, dass es in dieser Debatte nicht darum geht, islamische und jüdische Kinder zu schützen, sondern um zu zeigen, dass „unsere Werte die besseren“ sind. Würde man die Beschneidung verbieten, wäre die Gefahr auf jeden Fall viel größer, dass Kinder durch unprofessionelle Behandlung und unhygienische Bedingungen Schaden erleiden.
Konservative und reaktionäre islamische Strömungen haben zurzeit sehr viel Einfluss. Ist der Islam wirklich so streng, intolerant und umbarmherzig?
Omar: Die palästinensische Dichterin Viola Raheb hat einmal gesagt, Religionen sind wie ein orientalischer Bazar, in dem man alles finden kann, je nachdem, was man sucht. Wenn ich Versöhnung und Frieden suche, finde ich ein passendes Zitat, das gilt aber auch für das Gegenteil. Der Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, war jedoch ein ganz anderer als der, von dem heute in den Medien berichtet wird. Nicht Rache oder Strafe standen im Vordergrund, sondern Versöhnung und Vergebung wurden als höchste Tugenden angesehen. Der Islam ist im Grunde eigentlich sehr pragmatisch. Wenn ich ein Gebot nicht einhalten kann, gibt es immer einen Ausweg. Zum Beispiel: Wenn ich hungrig bin und keine andere Möglichkeit habe, darf ich auch Schweinefleisch essen. Ich sollte eine Pilgerreise nach Mekka machen, aber nur, wenn ich mir das leisten kann. Doch heute konzentriert man sich auf die eine Hälfte des Satzes: „Du darfst nicht, du musst“, den zweiten Teil, die Bedingungen und Einschränkungen ignoriert man. Heute erzählt man den Leuten sogar, dass sie in den Himmel kommen würden, wenn sie einen Menschen töten. Wie kann sich ein Mensch anmaßen, vorauszusagen, ob jemand in den Himmel kommt? Gibt es denn dafür eine Garantie? Wenn du unschuldige und unbeteiligte Menschen tötest, weiß ich nicht, was du im Paradies zu suchen hast.
Was können Muslime beitragen, um dieses einseitige Bild vom Islam zu verändern?
Omar: Die Gewalt zu reduzieren, liegt weder nur in den Händen der arabischen oder muslimischen Welt noch des Westens, sondern es müssten gemeinsam Anstrengungen unternommen werden, um Bedingungen zu schaffen, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Der Islam ist im Grunde eine tolerante Religion, die uns dazu auffordert, andere Menschen und ihre Überzeugungen zu respektieren. Daher muss ich als Muslim die Gesetze und Bräuche der Gesellschaft achten, in der ich lebe.
Wenn ich mich abkapsle, wachsen zudem die Angst und das Gefühl, fremd zu sein. Deshalb sollte ich den Mut haben, in die Gesellschaft zu gehen und von ihr zu lernen, meinen Kindern eine gute Bildung ermöglichen und ihnen erlauben, ihren Horizont zu erweitern. Das heißt ja nicht, dass ich deswegen meine Religion ablegen oder meine Identität verleugnen muss.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 42/2012
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