Afrika: 50 Jahre
Unabhängigkeit
– und was nun?
„Jahrhunderte lang haben die Europäer den afrikanischen Kontinent dominiert. Der Weiße Mann maßte sich das Recht an, über die Nicht-Weißen zu herrschen, seine Mission war, so behauptete er, Afrika zu ‚zivilisieren’. Unter diesem Vorwand raubten die Europäer die immensen Reichtümer des Kontinents und brachten unvorstellbares Leid über das afrikanische Volk. Das alles ist eine traurige Geschichte, doch heute müssen wir dazu bereit sein, die Vergangenheit und ihre unerfreulichen Erinnerungen zu begraben und in die Zukunft zu blicken.
Alles, was wir von den ehemaligen Kolonialmächten erwarten, ist ihr guter Wille und ihre Zusammenarbeit, um die Fehler und die Ungerechtigkeit der Vergangenheit wieder gut zu machen und den Kolonien in Afrika die Unabhängigkeit zu garantieren. Es ist klar, dass wir eine afrikanische Lösung für unsere Probleme finden müssen, und die kann nur in der Einheit Afrikas gefunden werden. Gespalten sind wir schwach, vereint könnte Afrika eine der größten Mächte für eine positive Entwicklung der Welt werden“. (Kwame Nkrumah, 1961 I speak of Freedom: A Statement of African Ideology)
Es war eine Zeit voller großer Hoffnungen. 1960 erreichte die Entkolonialisierung Afrikas ihren Höhepunkt. Deshalb feiern heuer 17 afrikanische Länder den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Doch gibt es für die Menschen in Afrika überhaupt einen Grund zu feiern? Obwohl Afrika über wertvolle Bodenschätze, fruchtbare Böden, riesige Regenwälder und mächtige Flüsse und Ströme verfügt, die das Potenzial haben, 40 Prozent der weltweiten Wasserkraft zu erzeugen. produziert der Kontinent nur 1,2 Prozent des weltweiten Sozialprodukts. Die meisten Staaten sind hoch verschuldet, Bürgerkriege, Seuchen und der Zerfall der staatlichen Ordnung haben viele Länder verwüstet und die Menschen traumatisiert hinterlassen.
Der Fluch des Reichtums
„Sowenig die kapitalistische Produktion sich auf die Naturschätze und Produktivkräfte der gemäßigten Zone beschränken kann, vielmehr zu ihrer Entfaltung der Verfügungsmöglichkeit über alle Erdstriche und Klimate bedarf“, braucht es „die unumschränkte Verfügungsmöglichkeit über alle Arbeitskräfte des Erdrunds, um mit ihnen alle Produktivkräfte der Erde (…) mobil zu machen“. (Rosa Luxemburg, 1913 Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 27)
Ende des 19. Jahrhunderts war fast der ganze Kontinent in den Händen der europäischen Kolonialmächte. Auf der Berliner Konferenz 1884/85 teilten die Kolonialmächte den Kontinent unter sich auf. Die Grenzen wurden mit dem Lineal auf der Landkarte gezogen, nach den wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen der europäischen Mächte, womit ein Grundstein für die „Teile und Herrsche“-Politik gelegt und spätere Konflikte heraufbeschworen wurden. Im Abschlussdokument der Konferenz hieß es, das Ziel der Kolonialisierung sei es, „den Eingeborenen die Vortheile der Civilisation verständlich und wert zu machen“. Doch welche Vorteile haben die afrikanischen Völker aus Menschenraub, Zwangsarbeit und Ausbeutung gezogen?
Was sind die Ursachen, für diese unglückliche Situation? Lange Zeit wurde die Armut Afrikas auf die angebliche Rückständigkeit geschoben. Dieses Argument diente als Rechtfertigung für die koloniale Unterjochung. Heute wird die Schuld gerne auf Korruption und Machtgier mancher Despoten geschoben. Im Gegensatz zu dem noch immer weitverbreiteten Vorurteil der Rückständigkeit afrikanischer Kulturen, ist die Geschichte Afrikas sehr vielfältig.
Der senegalesische Forscher Cheik Anta Diop (1923-86) vertrat nicht nur die These vom ägyptischen Pharaonenreich als einer autochthon afrikanischen Kultur, sondern hat auch erforscht, dass Afrika eine Reihe stabiler Zivilisationen hervorgebracht, sehr früh die Technik der Metallgewinnung und Metallverarbeitung beherrscht und eine fortschrittliche Urbanisierung und Verwaltung entwickelt hat. Seinen Untersuchungen zufolge haben Städte wie Benin oder Oyo auch Studenten und Botschafter nach Portugal geschickt. Aber gerade die Reichtümer des Kontinents waren es, die Sklavenjäger und Kolonialisten angezogen haben. Sklavenhandel und Kolonialisierung bildeten eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung Europas, während sie Afrika in den Abgrund stürzten. Die Rohstoffe, die aus den Regenwäldern Afrikas gesaugt wurden, und die Arbeit, die aus den Menschen – durch Sklavenarbeit auf der einen Seite, und Lohnarbeit auf der anderen – gepresst wurde, verhalfen Handelshäuser und Industriellen in Europa und Nordamerika zu ihrem Aufstieg.
400 Jahre Sklavenjagd und 150 Jahre Kolonialisierung brachten einen unüberwindlichen Einschnitt in die Entwicklung des afrikanischen Kontinents, der die wirtschaftlichen Produktivkräfte und die soziale Organisation der afrikanischen Völker zerstörte, indem ein großer Teil der jungen, kräftigen und arbeitsfähigen Menschen entzogen wurde. Noch schwerwiegender und langwieriger sind aber die Wunden, die Unterdrückung und Rassismus der Psyche der Betroffenen zugefügt haben.
Nach dem 2. Weltkrieg waren die europäischen Kolonialmächte geschwächt. 1947 wurde Indien für unabhängig erklärt, 1949 in China die Volksrepublik ausgerufen. Auch in den afrikanischen Kolonien formierte sich Widerstand und die Menschen waren nicht länger bereit, Ausbeutung, Unterdrückung und Bevormundung hinzunehmen. Die Dekolonisation in Afrika vollzog sich weitaus schneller, als es sich die Europäer vorgestellt hatten. In manchen Ländern wurden blutige Kriege geführt und noch am Ende der Kolonialzeit Aufstände blutig niedergeschlagen wie in Algerien, Kenia oder Madagaskar. In anderen Ländern zogen sich die Kolonialmächte ohne Blutvergießen zurück, nachdem sie ihnen wohl gesonnene Vasallenregime eingesetzt hatten.
Panafrikanismus
Kwame Nkrumah, der 1957 die ehemalige britische Kolonie Ghana als erster Präsident in die Unabhängigkeit führte, begeisterte die Menschen in Afrika mit seinem Konzept von Freiheit für Afrika. Nkrumah war überzeugt davon, dass diese Anstrengung nur mit vereinten Kräften zu meistern sei, und plädierte für eine starke politische Union mit einer gemeinsamen Zielsetzung. Er beschwor Einigkeit im Auftreten gegen die Kolonialmächte: Auch wenn die Kulturen, Ideen und Sprachen der afrikanischen Länder unterschiedlich seien, würden sie doch durch ein gemeinsames Interesse verbunden, nämlich die Unabhängigkeit.
Seinen Ursprung hat der Panafrikanismus allerdings nicht in Afrika, sondern in der Sehnsucht der verschleppten Sklaven auf dem amerikanischen Kontinent nach ihrer verlorenen Heimat. Mit Anbruch des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Bewegung zu einem Widerstandsforum gegen die koloniale Zerstückelung des Kontinents. Als Antwort auf die Verschacherung des afrikanischen Kontinents auf der Berliner Konferenz wurde die Idee der Vereinigten Afrikanischen Staaten geboren.Panafrikanisten veranstalteten 1893 in Chicago ihren eigenen Afrika-Kongress. Ab 1919 tagten panafrikanische Kongresse in Paris, London, Brüssel, Lissabon und New York, auf denen Schwarze erstmals gemeinsam politische Ansprüche formulierten. Es gelang ihnen, in den britischen Kolonien Goldküste und Nigeria eine Beteiligung der Einheimischen an der Gesetzgebung zu ermöglichen.
In den französischen Kolonien kam indes eine neue Idee auf, deren bekannteste Vertreter der von den Antillen stammende Autor Aimé Césaire und der spätere senegalesische Präsident Léopold Senghor waren. Die Négritude stellte der von den Europäern behaupteten Kulturlosigkeit Afrikas eine gleichberechtigte, aber andersartige schwarze Kultur und Identität gegenüber. Diesen kulturellen Nationalismus verwarf der Arzt Franz Fanon, einer der radikalsten Kritiker der Kolonialisierung, weil die präkoloniale Vergangenheit nicht als Muster für die künftige soziale Umwälzung herangezogen werden könne. Das Konzept der Négritude bestätige das verbreitete Vorurteil: „die Schwarzen tanzen, und die Weißen denken und schaffen etwas“, kritisierte auch der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka.
Beim 5. Panafrikanischen Kongress 1945 in Manchester übernahm eine neue Generation aus Afrika die Führung, darunter Kwame Nkrumah und Jomo Kenyatta. Bald wurde Nkrumah zur Stimme und zum Organisator des Panafrikanismus. In den späten 1940er und 1950er Jahren entwickelte er das Konzept einer Föderation unabhängiger westafrikanischer Staaten, die den Grundstein für die Vereinigten Staaten von Afrika legen sollten. Als er im März 1957 der erste Präsident des unabhängigen Ghana wurde, versuchte er die Position zu nützen, um anderen afrikanischen Staaten bei der Überwindung kolonialer Grenzen zu helfen. Doch viele Staatschefs fürchteten, ein panafrikanischer Sozialismus könnte den Westen abschrecken, in ihren Ländern zu investieren. Die Spaltung, vor der Nkrumah so eindringlich gewarnt hatte, war nicht mehr aufzuhalten. 1966 wurde der Unabhängigkeitsheld vom Militär geputscht und aus dem Land vertrieben. Damit war einer der bedeutendsten Vordenker der Unabhängigkeit in der Praxis gescheitert.
"Wir müssen es wagen, die Zukunft neu zu erfinden"
1983 lebte das Konzept des Panafrikanismus durch den Revolutionär Thomas Sankara, der zwischen 1983 und 1987 der Präsident Burkina Fasos war, wieder auf. Man sagt, Sankara war ein unkorrumpierbarer Mann, und sein wertvollster Besitz sei ein Auto, vier Fahrrädern, drei Gitarren und ein Kühlschrank gewesen. Um die wirtschaftliche Unabhängigkeit Burkina Fasos zu sichern, verstaatlichte Sankara den Mineralstoffreichtum des Landes und brach mit den internationalen Finanzinstitutionen. Es gelang ihm, innere Ressourcen zu mobilisieren und erfolgreich für öffentliche Bildung, Krankenversorgung, ein Wohnungsbauprogramm und eine Kampagne zur Aufforstung von 10 Millionen Bäumen einzusetzen.
Ein Schwerpunkt von Sankaras Revolutionsprogramm war die Gleichberechtigung der Frau. Sankara richtete einen „Tag der Solidarität“ ein, an dem Männer auf den Markt gehen, kochen, putzen und waschen sollten. Während seiner Regierungszeit wurde sichergestellt, dass Frauen in Entscheidungsfindungsprozesse einbezogen wurden, und die Tradition der Beschneidung bekämpft. Am 15. Oktober 1987 wurde der mutige Verfechter einer selbstbestimmten Entwicklung Afrikas zusammen mit 12 seiner Gefolgsleute Opfer eines Attentats, von dem gesagt wird, dass Frankreich seine Hände im Spiel gehabt habe. Sein Konzept der “Entwicklung aus eigener Kraft” war den Geschäftsinteressen der westlichen Mächte wohl im Wege gestanden. Sein Vermächtnis und seine Vision leben aber weiter. Viele Menschen in Afrika und auf der ganzen Welt sind inspiriert von seinem selbstlosen Kampf zur Befreiung Burkina Fasos vom Joch des westlichen Imperialismus.
Was hat die Unabhängigkeit gebracht?
In der Kolonialzeit wurden einheimische Betriebe und Produktionsweisen zerstört oder behindert, um die Absatzmärkte der Unternehmen der Kolonialmächte zu sichern. Deshalb war das Prinzip der „Self-Reliance“, das Besinnen auf die eigene Kraft und die Mobilisierung eigener Ressourcen, ein wesentlicher Bestandteil vieler Unabhängigkeitskonzepte. In Asien stellten Gandhis religiös-anarchistisches Ideal der dörflichen Selbstverwaltung und Maos revolutionärer Antiimperialismus unterschiedliche Modelle eines selbstbewussten auf die eigenen Kräfte vertrauenden nationalen Unabhängigkeitskampfes dar. In Tansania entwickelte Julius Nyerere die Idee von Ujaama – ein afrikanischer Sozialismus, der in der Dorfgemeinschaft wurzelt und auf Selbstverantwortung und Eigenständigkeit basiert.
Heute wird oft gesagt, diese Konzepte seien aufgrund der Abhängigkeit vom Weltmarkt zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber welchen Fortschritt hat das vom Westen für Afrika vorgesehene Wirtschaftssystem gebracht? Für viele afrikanische Regierungen, die auf Einnahmen durch Rohstoffexporte hofften, war die Verlockung groß, mit Hilfe ausländischer Investitionen einen schnellen Entwicklungssprung zu machen. Durch die Interessen der Supermächte im Kalten Krieg war es ihnen möglich, die eigene Haut relativ teuer zu verkaufen. Doch Modernisierung bedeutet nicht automatisch Fortschritt, schon gar nicht, wenn die Bedingungen von den Reichen und Mächtigen diktiert werden. Moderne Produktionstechniken sind technisch sensibel und benötigen teure Ersatzteile und Wartung, was wiederum Abhängigkeit vom Ausland mit sich bringt. Zudem sind sie kapitalintensiv und werfen, weil die Kaufkraft in Afrika gering ist, kaum Profite ab.
Die weltweite Überproduktion hat in den späten 1970er und den 1980er Jahren einen rapiden Rohstoffpreisverfall ausgelöst und damit viele vom Rohstoffexport abhängige afrikanische Staaten in eine Schuldenkrise gestürzt. Als Antwort darauf wurde ihnen von IWF und Weltbank als Bedingung für weitere Kredite Strukturanpassungsprogramme auferlegt. Weil demnach nun staatliche Unternehmen nicht mehr subventioniert werden durften, mussten sie geschlossen oder privatisiert werden. Kleinbetriebe dagegen wurden durch die erzwungene Öffnung der afrikanischen Märkte für ausländische Importe einem erhöhten Wettbewerb ausgesetzt, dem sie meist nicht gewachsen sind.
Auf dem Weltmarkt herrschen ungleiche Regeln. Ausländische Bergbaukonzerne ziehen Milliardengewinne aus dem Kontinent, während die Bevölkerung in bitterer Armut zurückbleibt. Afrikanische Kleinbauern stehen in Konkurrenz mit einer hochtechnisierten Agrarindustrie, die noch dazu staatlich subventioniert wird. Die Situation hat sich für die afrikanischen Länder durch die Unabhängigkeit nicht verbessert: Die Profite gehen ins Ausland, während nur ein Bruchteil der Erträge im Land bleibt und nur die Eliten davon profitierten.
Heute finden sich die Menschen in Afrika in der paradoxen Situation wieder. Flüchtlinge, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa geflohen sind, produzieren für Hungerlöhne auf südeuropäischen Obst- und Gemüseplantagen billige Produkte, mit denen die Märkte in ihren Heimatländern überschwemmt werden und so den einheimischen Bauern die Existenz wegnehmen – und arbeiten somit an der Verursachung der Misere selbst mit. Heute, in der Zeit der Globalisierung, stellt sich die Frage, ob die Ideen Nkrumahs, Lumumbas und anderer Unabhängigkeitskämpfer ihnen ins Grab gefolgt sind, oder ob die Idee eines vereinigten Afrika auch heute eine Perspektive bieten kann.
Quellen:
Farid Omar: In Memoriam Thomas Sankara, 27.10.2007 in: ZNet, http://zmag.de/artikel/in-memoriam-thomas-sankara, Wolfgang Schneider-Barthold: Die verhinderte Industrialisierung, in: E+Z - Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 10, Oktober 2001, S. 298-300.
erschienen in: Talktogether Nr. 33/2010
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